Am 21. Juni 2023 wurde direkt vor dem Rathaus ein neuer Stolperstein verlegt.
Die kleinen Gedenktafeln mit Namen, Alter und Schicksal erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. 1940 wurde Karl August Hering im Rahmen der Aktion T4* aus der damaligen Pflegeanstalt Altscherbitz deportiert und ermordet.
Mittwoch, 10 Uhr. Die Sonne scheint. Wie schon seit Tagen ist es sehr warm. In der Stadt herrscht emsige Betriebsamkeit - am Freitag beginnt das Stadtfest.
Vor dem Rathaus haben sich Schüler der Klassen 10a und 10c der Lessing-Oberschule, der Oberbürgermeister, Mitglieder des Erich-Zeigner-Haus Leipzig und viele weitere Gäste und Passanten versammelt. Ein neuer Stolperstein wird eingeweiht. Dieser liegt bereits an Ort und Stelle, ein Schwarz-Weiß-Foto daneben gibt dem Namen Karl August Hering ein Gesicht.
Sein letzter Wohnort war hier in Schkeuditz, vermutlich als Wohnungsloser. Daher wurde entschieden, den Stein vor dem Rathaus zu platzieren.
Die Gedenkfeier beginnt mit einem Lied. „Heute hier, morgen da“ singen die Schüler, ein Mädchen begleitet ihre Klassenkameraden auf der Gitarre. Auch aus dem Publikum sind vereinzelte Stimmen zu vernehmen - der Text wurde vorher verteilt. Nicht ohne Grund wählten sie dieses Lied - Karl August Hering war Kürschner und auf der Wanderschaft.
Nach der Danksagung übergibt Lilian Schüschke vom Erich-Zeigner-Haus den Schülern das Mikro. Im Rahmen eines Schulprojektes recherchierten diese die Geschichte von Karl August Hering und verlesen nun, was sie herausgefunden haben.
Die Aktengeschichte von Karl August Hering
Karl August Hering wurde 1887 in Markranstädt geboren. 1909 heiratete er, aus der Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Doch schon zwei Jahre später trennte sich Karl August von seiner Frau und ging auf Wanderschaft. Währenddessen geriet er immer wieder in Schwierigkeiten: 1913 wurde er wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt angeklagt, später wegen Bettelns zu zwei Tagen Haft verurteilt. 1914 saß er wegen Mundraub sechs Wochen im Gefängnis.
Der erste Weltkrieg begann und Karl August wurde eingezogen. Er erlitt eine Kopfverletzung durch eine Granate, musste aber nach einem Aufenthalt im Lazarett zurück an die Front.
Kurze Zeit später sagte er laut Akten: „Das Schießen auf die Engländer wäre verboten gewesen. Sie täten uns ja auch nichts“ Daraufhin kam er ins Lazarett wegen „Geisteskrankheit“.Es folgten Aufenthalte in zwei Heil- und Pflegeanstalten, aus denen er wieder entlassen wurde.
1918 wies man Karl August dann erneut in die Landesheil-Anstalt Altscherbitz ein.
Zwölf Jahre später „holte man ihn ab“ und deportierte ihn nach Brandenburg/Havel, wo er dann gewaltsam starb.
Schweigeminute und das Niederlegen von Rosen
Während der darauffolgenden Schweigeminute mache ich mir so meine Gedanken.
Ein Mann auf der Walz. Vielleicht ein Freigeist. Hat dann möglicherweise keine Arbeit gefunden, sodass er betteln und stehlen musste, um zu überleben. Schon unerwünscht.
Dann der Krieg. Der hinterlässt auch bei den Soldaten, so sie denn überleben, Narben an Körper und Seele. Manche werden die Bilder nie los. Zwölf Jahre in der Heilanstalt. In einer Zeit, in der jeder, der nicht „normal“ wirkte, als „lebensunwürdig“ galt. Was hat er dort noch durchleben müssen? Dann die Deportation. Haben sie ihm auch erzählt, dass es „auf Urlaub“ geht? Viele Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Aber die Gedanken daran sind das pure Grauen.
Die Schüler legen zum Gedenken Rosen ab. Eine kleine Box steht bereit, in die sie ihre zu Papier gebrachten Gedanken einwerfen können. Auch für die Gäste gibt es noch Stifte und Papier. Zum Abschluss singt eine Walzgruppe spontan „Bella Ciao“ das Partisanenlied gegen den Faschismus, ein Gänsehautmoment.
Sie sind wichtig, diese Stolpersteine. Auch wenn die darauf eingravierten Namen und Daten abstrakt sind und bleiben, sind sie Mahnmale eines gewaltsam ausgelöschten Lebens. Ein Leben, das nicht in die NS-Ideologie passte. Ein stiller Appell gegen das Vergessen.
Ein Schüler liest ein Gedicht von Erich Fried „Die Maßnahmen“.
Die Faulen werden geschlachtet
die Welt wird fleißig
Die Häßlichen werden geschlachtet
die Welt wird schön
Die Narren werden geschlachtet
die Welt wird weise
Die Kranken werden geschlachtet
die Welt wird gesund
Die Traurigen werden geschlachtet
die Welt wird lustig
Die Alten werden geschlachtet
die Welt wird jung
Die Feinde werden geschlachtet
die Welt wird freundlich
Die Bösen werden geschlachtet
die Welt wird gut
Mir dreht sich der Magen um.
Anmerkungen:
*Aktion T4 bezeichnet das systematische Töten von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Damit sollte die "arische Rasse" von denjenigen "gesäubert" werden, die als genetisch defekt und lebensunwert galten. Dafür wurden in Deutschland und Österreich sechs spezielle Vergasungsstätten errichtet.
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